Das Wunder.

Von Jürgen Behrndt.

Copyright 1990

Der Tag nach dem Tag an dem das Wunder geschehen war, schien ganz normal anzufangen. Es regnete, wie immer, wenn es nicht kalt war. Das Datum stimmte auch. Es war genau einen Tag nach gestern. Es war 10 Uhr wie vor 24 Stunden auch. Ingo stand auf. Alles war scheinbar wie immer. Doch etwas war irgendwie komisch. Er konnte es nicht erklären. Er duschte. Er fühlte sich gut. Er fühlte sich einfach gut! Auch das war kein Wunder in dem Sinne von unerklärlichem Ereignis, wie Wunder im Duden definiert war. Er frühstückte. Wunder? Nein, das Brötchen war fad. Er brauchte nirgends nachzuschauen, um zu wissen, daß es aus degenerierten Mehl gefertigt war. Aber es störte ihn nicht, das heißt, er regte sich nicht darüber auf. Früher hatte er gesagt: Die kapitalistische menschen- und geschmacksfeindliche Brötchenindustrie hat ... und so weiter.

Es kam ihm nicht einmal unwirklich vor, nein er wußte es nicht einmal! Das war kein Wunder. Denn das Wunder war geschehen!

Aber was war es? Er ging auf die Straße, wie immer. Da gingen wie immer einige attraktive Damen zur Arbeit. Das war O.K. Ingo hatte wie immer Phantasien. Und er pfiff durch die Finger, laut!

Wie immer sah sich eine Schönheit nicht einmal um, kein Wunder! Wenn sich die Mädels immer auf jeden Pfiff umdrehen würden, dann haben sie wohl bald 'nen steifen Nacken. Er fühlte sich nicht schuldig!

Er konnte nichts für die Gedanken der anderen. Das war kein Wunder! Es stimmte.

Das eigentlich merkwürdige war: er hatte diese Gedanken nicht. Es war ihm nicht egal, nein, er dachte diese Gedanken nicht! Etwas war da, wie eine Erinnerung an frühere Gedanken, wie als wenn ihm jemand gesagt hätte, man müsse sich schämen, aber es war belanglos!

Er hätte eigentlich allen Grund gehabt, Gedanken zu haben. Was war denn damals, vor Jahren geschehen? Mit Kathrin? Hatte sie nicht recht gehabt, war es nicht ihr verdammtes Recht gewesen, ihn, Ingo zu verlassen? Das war doch nur zu verständlich gewesen! Nein, er dachte nicht an Kathrin! Es war seltsam, etwas fehlte anscheinend in seinem Verstand! Was war es? Wie kann man über etwas nachdenken, was verschwunden war?

Überhaupt nach-denken! Es war geschehen, es gab nichts nach-zudenken. Wozu? Bereute er nicht, hätte er nicht daraus lernen können, waren es nicht gerade die schlechten Erfahrungen, die den Menschen reifer machten? Wo hatte er das noch gehört, war es in der Schule, in einem Philosophiebuch oder war es einfach eine Meinung gewesen von irgendjemand? Dieser Gedanke verblaßte, als das Telefon klingelte. "Hallo, bist du es, Ingo? Wie geht es Dir!"

Es war Kathrin! Zuerst konnte er es nicht fassen, das war wohl schon Monate her, daß er zum letzten Mal ihre Stimme gehört hatte. Dann freute er sich einfach. " Lange nichts von Dir gehört" gab er dumm zurück, dann etwas intelligenter:"Gerade hab' ich an dich gedacht". Kurz erschuf er das Bild ihres Gesichtes vor sich.

"Das habe ich glaube ich gespürt, ziemlich deutlich sogar". Er mochte dies Bild von ihr, das er hatte, während er mit ihr sprach, blond war sie und schön wie der Tag.

Sie plauderten ein wenig. Da war irgendwie nichts Häßliches mehr, nicht die Idee eines Bereuens oder einer Schuld.

Überhaupt, was war das für ein Wort, Schuld, wo hatte er das wieder aufgeschnappt? War es damals gewesen, als er Teenager war oder Säugling, war es vielleicht noch früher gewesen, in der Vergessenheit der Unendlichkeit, auf einem anderen Stern, einer anderen Welt, wo Wörter erfunden wurden?

Ja, als wenn Wörter wie Waffen gebraucht worden waren, so kam es Ingo jetzt vor:

Es begab sich lange nach der Zeit, als das Gedächtnis erfunden worden war. Der eine hatte etwas getan, etwas ziemlich gemeines, was er besser nicht getan hätte, versuchte es zu verbergen, bis er auf die geniale Idee zu sagen: Der und der ist Schuld, daß ich das getan habe! Fein raus, alle Mann.

Ingo erinnerte sich: Er hatte das Spiel mitgespielt, bis er selbst beschuldigt wurde, dann erfand er das Wort Rechtfertigung, und alles war wieder in Ordnung. Später schwirrte ihm das Wort Gewissen durch den Kopf, und viel später wußte er nicht einmal mehr, wo all das hergekommen war.

Die anderen konnten es ihm auch nicht erklären, sie hatten es entweder auch vergessen, oder sagten es ihm absichtlich nicht, damit er nicht jenes Spiel gewinne, dessen Anfang und Sinn keiner mehr kannte.

So war das entstanden, was allgemein als die Große Erste Verwirrung bezeichnet wurde, aus der Verwirrung entstand das Wort Sünde, dann das Wort Krieg.

Dann entstand Krieg.

ENDE