Ein Engel auf Reisen


oder

Eine Neun auf Reisen



7. März


Auf der Rückfahrt von Rumänien.


Das satte Grün der deutschen Wiesen im Frühling, die Kurt am Zugfenster vorbeiziehen sah, beruhigte ihn nicht so sehr, wie es der Schöpfer in seiner unerfindlichen Gnade wohl gewollt hatte.Er musste unablässig an Angela denken. Im Februar nach Rumänien zu fahren, war sowieso eine dieser Schnapsideen von Kurt gewesen, jedoch offenbar eine der besseren Sorte.
Er hatte in den vergangenen 2 Wochen den Lauf seines Lebens erheblich forciert, sozusagen in einer verfrühten Torschlusspanik.
Um endlich zur Ruhe zu finden.


Einen Schönheits- oder Beliebtheitspreis würde er sowieso nicht mehr gewinnen.
So viel war klar. Vielleicht den Preis für das verhunzteste Geburtshoroskop, oder das komplizierteste Seelenleben der westlichen Hemisphäre, wer weiß?


Eine Woche vorher, Sonntag, 1. März:


Aus den Autolautsprechern schallte Peter Gabriel:
I'd give you all of my dreams,
If You'd help me find the door
that doesn't lead me back again.

Kurt summte es nach an jenem regnerischen Tag:
"Ich gäbe Dir all meine Träume,
zeigtest Du mir den Weg, der mich nie mehr hierher zurückführt."
Das Brückengeländer war von einem teuren deutschen Wagen durchbrochen worden, zwei Tote hatte es gegeben, das erfuhr Kurt erst einen Tag später von Angela. Die Schaulustigen hielten Maulaffen feil, dieser Ausdruck brachte Jenica zum Lachen.

Nicht mehr zurück, hierher in dies Leben, diese zweifelhafte Identität, diesen ewigen Kampf, das manchmal unterbrochene Leiden.
Die Kassette war zu Ende, und Kurt legte eine Meditationskassette ein ("Liebe dein sexuelles Ich!"), schaltete sie aber wieder ab.


Die Neun

"Räume alles aus dem Weg, was du nicht willst, damit Du siehst, was Du willst."



"Bingo"


Das war das Signal für Angela und ihre Kolleginnen, loszurennen und neue Billetts an den Mann oder die Frau zu bringen. Der Laden war randvoll um diese Tageszeit. Kurt beobachtete Angela mit unverhohlener Sympathie, ja fast Geilheit, wie sie in ihrem roten Röckchen und der dazu passenden Uniform ihre Arbeit verrichtete.
Sie hatte eine Woche Frühschicht 8 - 15 Uhr, eine Woche Spätschicht 15-23 Uhr, dann eine Woche Nachtschicht 23-7 Uhr.
Und eine Woche frei.
Es gab keinen Sonntag, diese Schuppen hatten immer auf.
Es gab 3 davon in Bistrita in Siebenbürgen oder Transsilvanien, dieser war der größte.
Angelas Monatslohn betrug 150 Mark umgerechnet, plus Bakschisch
Kurt war sich nicht sicher: War Angela an ihm interessiert, oder mehr an einem Einreisevisum für Deutschland?
Er hoffte das erste, befürchtete aber das letztere. Die Schule des Lebens hatte ihn in dieser Hinsicht schon Pessimismus gelehrt, oder sollte man es Realismus nennen?
DM 2000,- brutto in Deutschland zu verdienen ist für eine Rumänin das Paradies.
Die erotischen Zeichen einer Frau zu deuten ist die hohe Kunst der Präsenz, der Wahrnehmung und der auch möglichen Desillusionierung.


Donnerstag 5. März


Das stellte Kurt beim Billard spielen in der Melody Disco fest. Es war diese Art Schuppen, in der man seiner Pepsi lutschte, und den auf ihre Weise süßen Bikinitänzerinnen zusah, wie sie sich zum Schein an einer Art Feuerwehrstange ergingen. Kurt schob Erika einen 5000 Lei-Schein in ihren Schlüpfer, so wie er es im amerikanischen Fernsehen gesehen hatte.
Angela applaudierte ihm! Versteht einer die Frauen?
Eine Zwei-Mann-Live-Kapelle spielte gerade. "Eine unmögliche Liebe" raunte aus den Lautsprechern. "dragoste Impossibile."
In der nächsten Disco erschallte im deutschen Originalton "Hallo Mister Wichtig, hier bist Du nicht richtig". Sie kannte es auswendig.
Es war erstaunlich voll für einen Donnerstagabend. Wir hotteten ein bisschen herum, sie lachte auf diese unverständliche Art.
"Namji pradeste", der Deutsche zahlt. Na gut, 2000 Lei Eintritt sind nicht mal 50 Pfennig.
So viel Brocken der fremden Sprache hatte Kurt schon aufgeschnappt.
ÎNainte=geradeaus.
stnga=links.
drapta=rechts.
aspettare=warten.
Sie sangen: "Wenn ich nur drei Tage tot sein könnte und dann wieder da wäre, dann wüsste ich, wer meine Freunde sind", übersetzte ihm Angela unaufgefordert.
Wenn sie wüsste, was er gerne getan hätte. Oder wusste sie es?


Sie war diese Art Frau, bei der man schon erregt wurde, wenn man ihr Haar berührte. Das Haar-Rot war auswaschbar.


"Kajira".


"Deine Sklavin wird noch ein Kilo abnehmen für dich, Herr", säuselte Jenica in Martins Ohr.
Kajira ist das Wort für Sklavin im GOR-Zyklus von John Norman.
Noch jemand, der aus einem Science Fiction-Roman eine Weltanschauung zaubert, dachte Kurt so bei sich.
Die Erste, die sich willens zeigt, kriegt das Visum. Wäre das nicht die Haltung eines echten Machos, der wirklich weiß, was er will? Einer "8" also ?
Aber doch einer schüchternen "9" eher unangemessen.
"Äußere deine Ansichten und Gefühle. Lerne, unbequem zu sein!"

Ich mag dich so gern, und du?


6. März


Die Karpaten zeigten an jenem Freitagnachmittag ihr schönstes Gesicht mit einer unübertrefflichen Fernsicht. Kurt nahm einen Tramper mit.
Die Innenstadt von Cluj Napoca bzw. Klausenburg war brechend voll, was auch nicht anders zu erwarten gewesen war an so einem Nachmittag. Jedoch erst abends loszufahren, erschien Kurt nicht sinnvoll genug.
Die O-Busse in Cluj zeigten keinerlei Respekt vor deutschen, rumänischen oder anderen Autofahrern.
Die Schlaglöcher hatten sogar etwas romantisches, wenn man sie nur umfahren konnte.
Hier in Cluj gibt es (wem auch immer sei Dank) Mac Donalds, diese Art Segnungen der westlichen Welt, auf die Kurt auch verzichten konnte. Aber viele Landsleute unternahmen tatsächlich stundenlange Reisen, nur um Pommes -Schranke zu lutschen.
Nächstes KapitelDurch den dauerhaften Konsum des Satellitenfernsehen nun endlich von der enormen Qualität und Notwendigkeit von All-Days-Binden und anderer lebenserleichternden Utensilien überzeugt , musste nun jedem klar sein , worauf es im Leben ankam...
Der Astra-Satellit hatte einen weit höheren Einfluss auf die Landesmentalität und Politik, als irgendwelche gewählten oder geduldeten Politiker jedweder Schattierung, so viel war klar.
Wie durch AFN in den 40er Jahren in Berlin war die kulturelle Infiltration hier schon längst geschehen.
Die Abstimmung mit der Fernbedienung findet gerade hier statt.
Da halfen keine protektionistischen Regierungsmaßnahmen, das Cartoon-Network auf Kanal 7 mit der Tom-und-Jerry-Show und Johnny Bravo zeigte allen, wo es lang zu gehen hatte.

Zurück?

Eine Art aggressives Vergnügen überkam Kurt bei gewagten Überholmanövern vor Oradea.
Der Wagen lief wie eine Eins.
Aber die besten Dinge im Leben sind umsonst.
Hier zu sterben, war nicht Gottes Plan für ihn, das wusste Kurt.
ER wollte ihn weiter quälen.
Die Fahrt durch Ungarn war eher angenehm gewesen, in Österreich regnete es jedoch ununterbrochen.
An der Grenze von Austria nach D geschah es dann. "Allgemeine Papierkontrolle!"
"Wir können Ihnen die Einreise leider nicht gestatten, weil Ihr Führerschein in D nicht gültig ist."
Österreich ist ja ein ganz schnuckeliges Ländchen in der Form eines Koteletts, aber immer hier bleiben?
Er fuhr notgedrungen zurück, in Richtung Linz und hielt an der nächsten Raststätte, um erstmal nachzudenken.
Es hätte auch noch schlimmer kommen können.
Es hätte auch Kuhscheiße regnen können.
Zu einem miserablen Wechselkurs tauschte Kurt 20 Dollar in 200 Schillinge.
Der Regen hatte aufgehört.
Die Sonne ging gerade auf.
Er fuhr zum nächstgelegenen Bahnhof, belegte die Toilette, und kriegte einen hysterischen Lachanfall.


ENDE
Copyright 2006 by Jürgen Behrndt